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Frühe Diagnose – Das Leben mit Alzheimer lebenswert machen

Susannes Welt wird 2019 von einem auf den anderen Tag auf den Kopf gestellt. Eigentlich steht sie mitten im Leben. Als Leiterin einer Münchner Werbeagentur ist sie viel unterwegs und springt häufig von einem Termin in den Nächsten. Und auch privat lieben sie und ihr Partner Andy es, unterwegs zu sein, sei es bei einer ihrer zahlreichen Auslandsreisen oder bei Unternehmungen mit Freundinnen und Freunden im Münchner Umland. Bei diesem aktiven und oft stressigen Alltag wundert es Andy zunächst nicht, dass Susanne hin und wieder Dinge vergisst. Nichts Außergewöhnliches, sie sei nun mal schon immer „liebenswert schusselig“ gewesen, wie er es nennt.

Susanne erhält mit Anfang 50 die Diagnose Alzheimer.

Die schleichenden Veränderungen schiebt Susanne auf ihren beruflichen Stress. Auch als ihr bei einer wichtigen Präsentation vor Kund*innen die Worte fehlen, denkt sie zunächst an ein stressbedingtes Burn-Out: „Ich dachte, ich sei einfach überarbeitet.“ Dass etwas nicht stimmt, fällt Andy auf, als er neben der Vergesslichkeit noch weitere Verhaltensänderungen bemerkt. Viel gereizter als üblich sei sie gewesen – „so kannte ich dich gar nicht“.

Als Susanne schließlich ärztliche Beratung sucht, wird bei ihr zunächst Burn-Out diagnostiziert. Susanne versucht den Aufenthalt in der Reha-Klinik noch in ihren vollen Terminkalender zu integrieren. Doch sie merkt schnell, dass es einfach nicht mehr geht und befolgt den Rat der Ärztin, sich während des mehrwöchigen Aufenthalts zu erholen. Der zuständige Klinik-Arzt vermutet schnell, dass nicht ein Burn-Out für die Gedächtnisprobleme und die zunehmende Gereiztheit verantwortlich ist. Zum Ende der Reha sitzt Susanne am 8. Mai 2020 gemeinsam mit Andy im Sprechzimmer des Arztes. Es sein kein Burn-out. Susanne ist an Alzheimer erkrankt. Weder sie noch Andy wissen in diesem Moment, wie sie mit dieser Schockdiagnose umgehen sollen. Gefühle von Machtlosigkeit, Trauer aber auch Unverständnis machen sich in ihnen breit. Wie kann man mit gerade einmal Anfang 50 an Alzheimer erkranken?

 

Alzheimer beginnt schleichend und oft früher, als man denkt

Tatsächlich werden die Alzheimer-Erkrankung und die dadurch bedingten Symptome wie Gedächtnisprobleme oder Orientierungslosigkeit von vielen Menschen fast ausschließlich mit älteren Menschen in Verbindung gebracht. Häufig werden Symptome wie Gedächtnisprobleme oder kognitive Beeinträchtigungen, wie bei Susanne, auf einen stressigen Alltag oder seelische Probleme zurückgeführt. Das ist das Heimtückische an der Krankheit: Die ersten Symptome können auch auf andere Erkrankungen zurückgeführt werden. Die Krankheit ist daher unterdiagnostiziert 1, 2, 3.

Klassischerweise zeigt die Alzheimer-Krankheit einen schleichenden Beginn. Im Gehirn kann es bereits bis zu zwanzig Jahre vor den ersten Symptomen zu pathologischen Veränderungen kommen 4. Durch genetische, externe und altersbedingte Faktoren kommt es zu einer Veränderung im Gehirn 5. Genauer gesagt, kommt es zur Ablagerung von Eiweißen, den sogenannten Beta-Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen 6. Die Forschung geht davon aus, dass diese krankhafte Anhäufung von Amyloid von zentraler Bedeutung für die Entstehung der Alzheimer-Krankheit ist 7, 8.

Die Beta-Amyloid-Plaques können vom Körper nicht mehr abgebaut werden.

Betroffene profitieren von einer frühen Diagnose

Diese pathologischen Veränderungen können durch gezielte Diagnostik-Methoden heute bereits in den frühen Phasen der Erkrankung nachgewiesen werden. Aktuelle Stadieneinteilungen umfassen daher nicht nur die milde, moderate und schwere Alzheimer-Demenz, sondern auch das Stadium der leichten kognitiven Beeinträchtigung (Mild Cognitive Impairment/MCI) und die präklinische Phase 9. Das MCI-Stadium und das Stadium der milden Alzheimer-Demenz bieten ein erstes Zeitfenster, um klinisch und mit geeigneten neuroradiologischen und Biomarker-gestützten Diagnostik-Methoden die Alzheimer-Krankheit zu erkennen 10. Auch wenn die Erkrankung bisher nicht heilbar ist, so ermöglicht eine frühe Diagnose den Betroffenen und den behandelnden Ärztinnen und Ärzten die Planung des weiteren Vorgehens.

Susanne kann durch einen aktiven Lebenswandel den Verlauf ihrer Erkrankung positiv beeinflussen.

Als Susanne die Diagnose erhält ist Andy bei ihr. Er erinnert sich an diesen Moment: „Da wurde einem der Boden unter den Füßen weggerissen.“ Susanne ist fassungslos und ihr kommen die Tränen. „Wie geht mein Leben weiter? Geht es überhaupt weiter?“ Antworten auf diese Fragen erhält sie zunächst nicht.

Die Zeit nach der Diagnose gestaltet sich für Susanne und Andy sehr schwer, denn sie wissen nicht wer ihnen in dieser Situation helfen kann oder wie sie selbst mit der Krankheit umgehen sollen. Beide kommen zu dem Schluss, dass Susanne nicht in ihren Beruf zurückkehren kann. Sie muss ihre eigene Firma, für die sie jahrelang hart gearbeitet hat, liquidieren. Sie stellt ihr Leben nach der Diagnose konsequent um und beginnt mehr auf sich selbst zu achten, folgt noch mehr als zuvor einer gesunden Ernährung und bewegt sich regelmäßig. 10.000 Schritte pro Tag sind Pflicht, zudem treibt sie mindestens 2-mal in der Woche Sport.

Susanne ist es sehr wichtig, ihren Alltag noch immer selbstständig bestreiten zu können. An der Tür des Wohnzimmers haben sie und Andy ein Plakat mit Susannes persönlichem Wochenplan aufgehängt. Alltägliche Aufgaben wie das Einkaufen oder das Herunterbringen des Mülls, aber auch Treffen mit Freunden werden hier eingetragen und geben Susanne im Alltag eine Orientierung. Diese Selbstständigkeit wird auch von Andy unterstützt, der ihr stets zur Seite steht, und sie immer dazu ermuntert, die Herausforderungen des Alltags selbstständig zu bewältigen. Behilflich sind ihnen hierbei auch digitale Hilfsmittel. Über eine App auf Susannes Mobiltelefon kann Andy Susannes Standort verfolgen. Wenn sie bei ihren Spaziergängen oder beim Joggen nicht mehr weiterweiß, kann Andy sie aus der Ferne unterstützen: „Wenn ich die Orientierung gänzlich verliere, rufe ich ihn an und er lotst mich zum Ziel.“

Susanne lebt und denkt positiv – für sich und für andere

Susanne und Andy blicken mit Zuversicht in die Zukunft.

Das Leben trotz der Erkrankung lebenswert zu machen – nach diesem Motto leben Susanne und Andy. Jeden Tag ein Highlight erleben. Das hat Susanne sich vorgenommen. Zu den Highlights gehören spontane Reisen, die die beiden auch nach der Diagnose gerne unternehmen. „Wenn wir sagen, wir wollen nächstes Wochenende nach Paris fahren, dann machen wir das auch“, sagt Andy und erzählt weiter: „Auf unseren spontanen Trips haben wir schon viele interessante Menschen kennengelernt und neue Freundschaften geschlossen.“

Andere Freundschaften sind nach der Diagnose hingegen zerbrochen. Eine Erfahrung, die viele Alzheimer-Patientinnen und -Patienten machen, denn häufig stoßen Betroffene und ihre Angehörigen selbst bei Menschen, die ihnen nahe stehen, auf Unverständnis. Trotz einer steigenden Zahl an Alzheimer-Diagnosen in Deutschland, ist die Erkrankung in der Gesellschaft noch immer mit einem Stigma behaftet, das den allgemeinen Umgang mit ihr stark beeinflusst. Dies kann dazu beitragen, dass Betroffene aus Angst und Schamgefühl auftretende Warnzeichen missachten und den Besuch beim Arzt oder der Ärztin vermeiden. Dadurch verlieren sie wertvolle Zeit.

Susanne selbst hat nach der Diagnose jedoch auch positive Erfahrungen gemacht und freut sich über neue Bekanntschaften mit denen sie auch über ernste Themen, wie ihre Erkrankung, sprechen kann. Sie hat Menschen getroffen, die echtes Interesse am Thema Alzheimer zeigen und sich mit Susannes Leben mit der Erkrankung auseinandersetzen. Über eine Patientenorganisation hat sie eine andere Betroffene kennengelernt, mit der sie heute eine enge Freundschaft verbindet: „Das ist für mich eine ganz starke Beziehung. Das ist eine große Stütze für mich.“ Für die Zukunft wünscht sich Susanne daher, dass der Austausch zwischen Betroffenen sowie der allgemeine Zugang zu Informationen über die Erkrankung besser wird. Sie selbst habe sich nach der Diagnose völlig allein gelassen gefühlt. Ihr Ziel ist es daher, Botschafterin für jüngere Alzheimer-Patientinnen und -Patienten zu werden und ihnen die Hilfe zu bieten, die sie selbst nicht hatte.

Mit ihrer Erkrankung hat sich Susanne mittlerweile gut arrangiert: „Ich bin sehr gestärkt inzwischen. Das hat aber eine Weile gebraucht. Das ist jetzt eine andere Susanne – die finde ich aber ganz gut inzwischen“, sagt Susanne und Andy stimmt ihr lachend zu.

Referenzen
  1. Alzheimer’s Association. 2022 Alzheimer’s Disease Facts and Figures. Alzheimers Dement 2022;18. Verfügbar unter: https://www.alz.org/media/documents/alzheimers-facts-and-figures.pdf. Abgerufen am 12.05.2022.
  2. Petersen RC. Mild cognitive impairment. Continuum (Minneap Minn). 2016;22(2):404-418
  3. Albert MS, DeKosky ST, et al. The diagnosis of mild cognitive impairment due to Alzheimer’s disease: recommendations from the National Institute on Aging–Alzheimer’s Association workgroups on diagnostic guidelines for Alzheimer’s disease. Alzheimers Dement. 2011;7(3):270-279.
  4. Morris JC. Early-stage and preclinical Alzheimer disease. Alzheimer Dis Assoc Disord. 2005;19:163–165.
  5. Tran L, Ha-Duong T. Exploring the Alzheimer amyloid-β peptide conformational ensemble: A review of molecular dynamics approaches. Peptides. 2015;69:86–91.
  6. Ebd.
  7. Hardy J, Selkoe DJ. The amyloid hypothesis of Alzheimer's disease: progress and problems on the road to therapeutics. Science. 2002;297:353–356.
  8. Selkoe DJ, Hardy J. The amyloid hypothesis of Alzheimer's disease at 25 years. EMBO molecular medicine 8.6 (2016): 595-608.
  9. Sperling R et al. Toward defining the preclinical stages of Alzheimer’s disease: recommendations from the National Institute on Aging–Alzheimer’s Association workgroups on diagnostic guidelines for Alzheimer’s disease. Alzheimers Dement. 2011;7(3):280-292.
  10. Deuschl, G, Maier W. "S3-Leitlinie Demenzen." Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie (2016): 33. 

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